DONNERSTAG, 14.35 UHR

Hans Schmidt hatte sich vier Minuten länger Zeit genommen, er wollte nicht auf die Sekunde genau bei Albertz erscheinen. Die Straße lag wie ausgestorben, als er den Zeigefinger auf den Klingelknopf legte. Das Tor ging auf, ohne dass sich jemand gemeldet hätte. Kurz bevor er die Haustür erreichte, wurde diese geöffnet, und Albertz stand mit einem jovialen und erwartungsfrohen Lächeln in der Tür.

»Treten Sie ein und präsentieren Sie mir Ihre Schätze, oder, besser gesagt, öffnen Sie Ihre Schatztruhe!« Er deutete auf die Aktentasche.

»Es tut mir leid, dass ich mich verspätet habe, aber ich musste an einigen Ampeln doch etwas länger warten.« »Herr Schmidt, ich bitte Sie, ich habe das überhaupt nicht gemerkt. An manchen Tagen ist das tatsächlich wie verhext, man kommt einfach nicht durch«, erwiderte Albertz und dachte: Was für ein Trottel, der hätte wirklich Buchhalter werden sollen. Möchte nicht wissen, wie das bei ihm zu Hause aussieht, wahrscheinlich bügelt der auch seine Unterhosen und Socken oder lässt sie bügeln. »Nun kommen Sie schon, Sie kennen sich doch hier drinnen aus. Gehen wir dorthin, wo sich ein kostbares Buch am wohlsten fühlt, in die Bibliothek.«

Schmidt sah Albertz' Frau Roberta in der Küche hantieren, ein Rasseweib, keine Frage, auch wenn sie nicht seinem Geschmack entsprach. Sie hatte nicht die elegante, feine Ausstrahlung Marias oder Sarahs, sie war ihm etwas zu laut, vielleicht ein wenig ordinär, was jedoch täuschen konnte, denn er hatte schon einige Brasilianerinnen kennengelernt, die in ihrem Herzen anders waren, als sie sich nach außen hin gaben: liebevoll, sanft, voller Gefühl und Wärme. Wahrscheinlich ist Roberta auch so, dachte er.

»Nehmen Sie Platz.« Albertz deutete auf die kleine Sitzgruppe mit dem runden Holztisch aus dem neunzehnten Jahrhundert. »Meine Frau wird uns gleich den Kaffee servieren.«

»Danke, für mich keinen Kaffee, davon werde ich immer sehr unruhig. Ein Glas Wasser oder ein Pfefferminztee wären mir lieber, falls es Ihnen keine Mühe macht.« »Kein Problem, wir haben sowohl das eine als auch das andere. Einen Moment, bitte.«

Albertz verließ den Raum und kehrte wenig später zurück.

»Meine Frau wird gleich kommen, wenn der Pfefferminztee fertig ist. Kann ich sonst noch etwas für Sie tun, bevor wir zum interessanten Teil des Nachmittags kommen?«

»Nein danke, ich möchte Ihre Zeit nicht über Gebühr in Anspruch nehmen«, antwortete Schmidt zurückhaltend und klammerte sich an seine Aktentasche, als wäre darin der Heilige Gral versteckt.

Es klopfte, und Roberta Albertz trat mit einem Silbertablett ein, auf dem ein Kännchen Kaffee, ein Kännchen Tee sowie zwei Tassen und eine Schale mit Gebäck waren. Sie begrüßte Schmidt freundlich mit gedämpfter Stimme, stellte die Sachen ab und wollte mit dem Tablett wieder nach draußen gehen, als ihr Mann sie zurückhielt.

»Schatz, wir wollen ungestört bleiben, sollte also jemand anrufen, dann sag ihm, dass ich nicht zu erreichen bin, ich rufe zurück. Verstanden?« »Ja, natürlich.«

Sie machte so leise und vorsichtig die Tür hinter sich zu, als wäre es ihr von Albertz so befohlen worden. Sie hatte Angst vor ihm, das war Schmidt schon bei seinem letzten Besuch aufgefallen, nicht lange nachdem Albertz sie geheiratet hatte. Eine junge, hübsche Frau, die in Angst vor ihrem eigenen Mann in einem goldenen Käfig gefangen gehalten wurde. Er kannte solche Ehen, Sarah Schumann hatte auch Höllenqualen gelitten.

»Sie haben eine sehr nette Frau«, sagte Schmidt, ohne Albertz anzusehen.

»Ja, ich kann mich nicht beklagen. Also, ich bin neugierig, was haben Sie mir Schönes mitgebracht?« »Wie ich schon sagte, Jonathan Swifts Gullivers Reisen und A Modest Proposal, falls Ihnen Letzteres etwas sagt.«

»Natürlich, ich habe mich eingehend mit Swift auseinandergesetzt und finde diesen Mann schlichtweg faszinierend. Nun machen Sie's nicht so spannend, zeigen Sie mir Ihre Schätze, ich bin sicher, wir werden uns beim Preis einig.«

»Wie Sie wünschen, Herr Albertz«, sagte Schmidt, öffnete die Tasche und legte eines der beiden in Papier eingewickelten Bücher auf den Tisch. »Gullivers Reisen. Packen Sie es bitte vorsichtig aus, es ist äußerst wertvoll.« Albertz griff nach dem Buch, als handelte es sich um einen ganz besonderen Schatz, sein Blick war ausschließlich auf das Papier gerichtet, das er langsam entfaltete, er merkte nicht, dass Schmidt wie aus dem Nichts eine Pistole mit aufgesetztem Schalldämpfer in der Hand hielt. Albertz, der noch immer den Blick gesenkt hatte, runzelte die Stirn. »Ich glaube, Sie haben sich da vertan, ich ...« »Falsch, ich glaube, Sie haben sich vertan«, sagte Schmidt kalt, die Pistole auf Albertz gerichtet. Albertz ließ sich zurückfallen und sah Schmidt mit zusammengekniffenen Augen an. »Was soll das? Was wollen Sie von mir? Tun Sie das Ding runter, Herr Schmidt«, fuhr er ihn an.

»Daraus wird leider nichts. Darf ich mich vorstellen, Hans Schmidt, seit vierundzwanzig Jahren in Ihrem Auftrag unterwegs ...«

»Sie wollen mich auf den Arm nehmen«, quetschte Albertz hervor, seine Selbstsicherheit war innerhalb weniger Sekunden verschwunden.

»Nein, keineswegs. Sie haben einen großen Fehler begangen, Herr Albertz, Sie haben Frau Schumann belästigt. Das war der letzte und größte Fehler Ihres Lebens. Ich warne Sie, eine falsche Bewegung, und zwei kleine Löcher zieren Ihren Kopf und Ihre Brust. Es geht ganz schnell. Und jetzt hören Sie mir gut zu. Ich ...« »Warten Sie, warten Sie, ich bin etwas verwirrt. Sie sind also unser Mann für schwierige Fälle? Das kann ich mir so gar nicht vorstellen.«

»Ich bin ein ziemlich guter Schauspieler. Immer, wenn ich in Kiel bin, spiele ich den Schüchternen, und wie es aussieht, sind Sie, wie alle anderen auch, auf dieses Spiel hereingefallen. Sie hätten niemals für möglich gehalten, dass ich Ihr Auftragskiller sein könnte. Nun, auch ich hätte niemals gedacht, dass Sie der Kopf der Organisation sein würden, ich war immer überzeugt, Freier wäre einer der Entscheider. Freier und noch jemand, den ich eigentlich heute töten wollte. Bis Frau Schumann mir letzte Nacht von Ihnen erzählte. Sie werden Ihren Fehler bitter bereuen ...«

»Herr Schmidt, lassen Sie mich Ihnen erklären ...« »Ich will von Ihnen keine Erklärung, Sie werden mir ab sofort nur noch zuhören. Danach dürfen Sie sprechen. Bewegen Sie sich nicht einen Millimeter, ich bin garantiert schneller als Sie ... Bis vor nicht allzu langer Zeit hatte ich keine Ahnung, welche schmutzigen Geschäfte bei Ihnen getätigt werden, ich dachte immer, ich würde im Dienst der Politik schwierige Aufträge erfüllen. Es gibt nur zwei Tote, die ich bedaure getötet zu haben, Julianne Cummings und das Mädchen, das bei Manfred Schumann war und dessen Namen ich nicht einmal weiß.

Nun, geschehen ist geschehen. Dann aber erzählte mir Frau Schumann vor knapp einem Jahr eine geradezu unglaubliche Geschichte, die Geschichte ihrer Schwester, die mit Robert Klein verheiratet gewesen war. Sie kennen diesen Klein ja, diesen verfluchten Sadisten. Ich habe am Montag unter falschem Namen mit verändertem Äußeren an einer Auktion teilgenommen. Niemals werde ich vergessen, was Klein mit einer gewissen Svenja aus der Ukraine gemacht hat. Weil sie ihm nicht bedingungslos zu Willen war, hat er sie erst halb totgeprügelt, bevor er ihrem Leiden mit einem Schnitt durch die Kehle ein Ende bereitete. Mädchen zwischen sechzehn und Anfang zwanzig wurden wie Vieh versteigert. Dann fragte einer der Käufer, wie es denn mit ganz frischem, zartem Fleisch aussähe. Was er damit meinte, brauche ich Ihnen nicht zu erklären, Sie kennen die Auktionen, da bin ich mir sicher. Wissen Sie, was Klein geantwortet hat? Natürlich wissen Sie's, Sie kennen das Geschäft ja in- und auswendig, und es gibt wahrlich genügend perverse Kunden, die ihre verdammten Schwänze am liebsten in kleine Kinder stecken. Ich hatte mich mit eigenen Augen überzeugen wollen, ob das, was Frau Schumann mir berichtet hatte, auch wirklich stimmt. Es stimmt ...

Und nun zurück zu Sarahs Geschichte, ich werde sie nur noch Sarah nennen, das tun Sie ja auch. Sie hat mir von Klein und ihrer neunjährigen Nichte mit dem wunderschönen Namen Jasmin erzählt. Wie Klein das Mädchen mit zu Auktionen geschleppt hat, er hat es mit den Händen und einer Halskrause aus Eisen an die Heizung gekettet, so dass es mit ansehen musste, wie sein Stiefvater Kinder, Teenager und junge Frauen verhökert hat. Dieses neunjährige, unschuldige Mädchen hat dasselbe Grauen gesehen wie ich. Vor ihren Augen hat Klein mehrere junge Frauen umgebracht - mit einer unfassbaren Brutalität. Als die Mutter, die von Klein fast täglich mit dem Tod bedroht wurde, von den Vergewaltigungen und Misshandlungen ganz zu schweigen, schließlich davon erfuhr, brach sie zusammen. Anfang der neunziger Jahre kam Klein nach Kiel und ließ sich scheiden, nicht ohne die Mutter und das mittlerweile vierzehnjährige Mädchen mit weiteren massiven Drohungen zum Schweigen zu verdonnern. Jasmins Mutter wurde zur Alkoholikerin und ist vor einem Jahr an Leberzirrhose gestorben. Sie hat nie mit ihrer Schwester Sarah über diesen Alptraum gesprochen, die Angst war zu groß. Aber in einem lichten Moment kurz vor ihrem Tod hat sie alles niedergeschrieben, was ihr und ihrer Tochter zwischen 1985 und 1990 angetan worden war. Kein Detail hat sie ausgelassen ... Das Mädchen wandert seit seinem fünfzehnten Lebensjahr von einer Psychiatrie in die nächste. Sie ist drogenabhängig, kann Realität und Fiktion nicht mehr voneinander unterscheiden, hat mehrere Selbstmordversuche hinter sich und leidet unter einer dissoziativen Identitätsstörung, bedingt durch traumatische Kindheitserlebnisse. Sie wird nie ein normales Leben führen können. Sie ist jetzt Anfang dreißig und wie tot. Drogen, Alkohol und Psychiatrie bestimmen ihr Leben. Dann habe ich recherchiert und herausgefunden, was Klein jetzt so treibt, dass er eine große Spedition in Kiel übernommen hat und Menschen ins Land holt, damit sie hier missbraucht oder gar getötet werden. Ich stellte fest, dass es im Auftrag Ihrer Organisation geschieht, dem Verfassungsschutz. Aber, und jetzt kommt das große Aber, ich glaube nicht, dass es der Verfassungsschutz ist, sondern dass Sie Ihr eigenes Ding durchziehen. Sie haben eine Organisation innerhalb der Organisation aufgebaut, wovon die Bosse beim VS nichts wissen. Sie sind dabei unglaublich geschickt vorgegangen, das ist das einzige Kompliment, das ich Ihnen machen kann. Ansonsten empfinde ich nur Abscheu und Ekel. Bruhns und die Steinbauer standen auf Ihrer Lohnliste, dazu noch Klein, Freier und einige andere. Sie selbst haben sich eine goldene Nase verdient, denn ein normaler Beamter beim Verfassungsschutz könnte sich eine solche Luxusvilla niemals leisten. Ich weiß, ich habe Ihre Organisation bereits empfindlich getroffen, und ich frage mich nun, was machen die anderen, wenn Sie nicht mehr sind?« Schmidt lächelte kalt.

»Da haben Sie sich ja etwas zusammengereimt, was vorne und hinten nicht stimmt. Außerdem, wer gibt ausgerechnet Ihnen das Recht, über mich zu urteilen, wo Sie doch selbst unzählige Menschen ins Jenseits befördert haben?«

»Ich nehme mir dieses Recht, weil ich bis auf zwei Ausnahmen nur Menschen umgebracht habe, die es verdient hatten. Bis auf Julianne Cummings und das Mädchen bei Manfred Schumann waren sie alle entweder direkt oder indirekt in Morde oder andere unsäglich schmutzige Geschäfte verstrickt. Sie kommen aus dieser Nummer nicht mehr raus, das sollten Sie endlich begreifen.« »Wenn Sie mich töten, wird man Sie jagen, und wenn es bis zum Mittelpunkt der Erde sein muss. Sie werden keine ruhige Minute mehr haben, denn Sie werden an jedem Ort der Welt mit der Angst leben müssen, dass mit einem Mal jemand vor Ihnen steht und Sie umlegt. Ich selbst habe keine Angst vor dem Tod«, sagte Albertz mit schwerem Atem und Schweiß auf der Stirn, ein untrügliches Zeichen für Angst und Panik.

»Wieso schwitzen Sie dann so? Wissen Sie, ich habe genug Opfer vor ihrem Tod beobachtet und weiß, wann jemand Angst hat und wann nicht. Es gab tatsächlich welche, die sich in ihr Schicksal ergeben haben, weil sie in dieser Minute der Wahrheit erkannten, dass sie nur Unheil über andere brachten. Aber die meisten haben genauso geschwitzt wie Sie. Machen Sie mir also nicht weis, Sie hätten keine Angst.«

»Okay, ich gebe zu, ich habe Angst. Wie können wir das Problem zu unserer beider Zufriedenheit lösen? Geld?« »Tja, da bin ich in der glücklichen Lage, sagen zu können, dass Sie mich in der Vergangenheit so gut entlohnt haben, dass ich auf Geld nun wahrlich nicht mehr angewiesen bin. Ich habe ausgesorgt, und Ihre Drohung, man würde mich jagen, verbuche ich mal unter >heiße Luft<. Jetzt meine Frage an Sie, und davon hängt ab, ob ich Sie am Leben lasse oder hier in diesem Zimmer erschieße: Sind Sie der Chef der Organisation? Wenn nicht, dann nennen Sie mir seinen Namen.«

Albertz' Gedanken rasten, immer mehr Schweiß bildete sich auf seiner Stirn und rann ihm über das Gesicht. Normalerweise hatte er alles unter Kontrolle, doch diesmal war er an einen stärkeren Gegner geraten. Er schluckte schwer.

»Darf ich mir einen Whiskey nehmen?«, fragte er. »Nein, erst antworten Sie auf meine Frage. Sie sollten sich daran gewöhnen, dass ich hier das Sagen habe. Also, Sie oder ein anderer? Und wenn, wer?« »Was ist mit einer Zigarette?«

»Abgelehnt. Ich zähle bis zehn, dann habe ich eine Antwort, oder ich zerschieße Ihnen das rechte Knie, was in etwa so weh tun wird wie das, was Sie mit Sarahs Brust gemacht haben. Sie hat wahnsinnige Schmerzen, wissen Sie das? Natürlich, Sie wissen genau, wie man Menschen mit geringstmöglichem Aufwand die größtmöglichen Schmerzen zufügt. Das lernt man beim Verfassungsschutz. Jetzt fange ich an zu zählen ...« »Warten Sie, ich zeige mich kooperativ. Ich bin nicht der Boss, ich bin auch nur ein Befehlsempfänger. Es gibt noch Leute über mir«, presste er durch die schmalen Lippen. »Und wen?«

»Was werden Sie tun, wenn ich es Ihnen sage?«

»Was glauben Sie denn, was ich tun werde?«

»Sie werden mich erschießen und meine Frau auch, denn sie kennt Sie ja, sie weiß ja, dass Sie hier sind.«

»Falsch. Ich werde Sie nicht erschießen. Und machen Sie schon, ich habe meine Zeit nicht gestohlen.«

»Rüter ist der Boss für Norddeutschland, sein Vater stellt die Verbindungen von Berlin aus her. Die bringen mich um ...«

»Oder ich sie. Staatsanwalt Rüter. Ja, das klingt logisch, und danke, dass Sie die Wahrheit gesagt haben, denn Rüter ist der Mann, den ich eigentlich heute Vormittag hatte töten wollen. Ich bin aber noch nicht fertig. Erzählen Sie etwas über Hauptkommissar Henning und seine reizende Kollegin Lisa Santos. Sie kennen sie doch, oder?« »Woher wissen Sie ...«

»Ich habe die beiden ein paarmal angerufen und sie zu Tatorten bestellt. Natürlich wissen sie nicht, wer ich bin, aber sie sind die besten Polizisten, die ich mir vorstellen kann, zumindest geht das aus den Erkundigungen hervor, die ich über sie eingeholt habe. Sie waren heute Vormittag bei Sarah und haben ihr Fragen gestellt. Wissen Sie davon?«

Albertz sah Schmidt mit flackerndem Blick an und schüttelte den Kopf, ohne etwas zu sagen. »Sie lügen. Hören Sie auf, mit mir zu spielen, die Zeit der Spiele ist endgültig vorbei. Sarah hat mir gesagt, dass sie Ihnen davon erzählt hat. Ich habe eine leise Ahnung, dass Sie Ihre Lakaien auf Henning und Santos hetzen werden oder es sogar schon getan haben. Korrigieren Sie mich, wenn ich etwas Falsches sage, aber ich kann mir nur schwer vorstellen, dass Sie die beiden in Ruhe lassen.« »Mein Gott, was hätte ich denn tun sollen? Henning und Santos hatten von Rüter die Order erhalten, sich aus den Fällen zurückzuziehen, ansonsten würde dies ernsthafte Konsequenzen für sie haben. Sie ermitteln aber trotzdem weiter. Sie sind zu einer Gefahr für uns geworden ...«

»Das heißt, Sie haben Ihre Bluthunde auf sie gehetzt. Sind sie schon tot?«

»Nein, vor einer Aktion sollten sie mich unbedingt anrufen, damit ich ihnen mein Okay gebe. Sie haben bis morgen Abend Zeit, sich etwas einfallen zu lassen«, antwortete Albertz mit zittriger Stimme, während er, wie Schmidt leicht belustigt merkte, krampfhaft nach einer Lösung suchte, sein Leben zu retten. »Gut. Namen?«

»Hauptkommissar Friedmann und sein Kollege Müller vom LKA, Drogenfahndung«, sagte Albertz mit stockender Stimme.

»Mein Gott, ich hätte es niemals für möglich gehalten, dass Sie sich so kooperativ zeigen«, sagte Schmidt anerkennend. »Ich hätte erwartet, dass Sie mich in die Irre zu führen versuchen, aber Chapeau, ich weiß Ihre Ehrlichkeit zu schätzen. Vorausgesetzt, Sie sagen mir tatsächlich die Wahrheit. Sagen Sie die Wahrheit?« »Ja, verdammt noch mal. Glauben Sie, ich würde Sie anlügen? Ausgerechnet Sie mit der Kanone vor meinem Gesicht?«

»Nun gut. Haben Sie Ihr Handy hier?« »Ja.«

»Dann rufen Sie Friedmann und Müller an und sagen Sie ihnen, dass sie heute Abend um neun in Kleins Haus in Mönkeberg sein sollen. Henning und Santos werden ebenfalls dort sein.«

»Wie soll ich das begründen? Sie werden Fragen stellen.«

»Sagen Sie ihnen, dass Sie die beiden angerufen haben. Weitere Fragen beantworten Sie nicht.« »Wie Sie wünschen. Friedmann und Müller sollen also um neun in Kleins Haus in Mönkeberg sein.« »Kennen Sie Henning und Santos persönlich? Oder anders gefragt: Hatten Sie in letzter Zeit mit ihnen zu tun?«

Albertz kaute auf der Unterlippe, er hielt Schmidts Blick nicht stand. Keine Antwort.

»Jetzt wird mir einiges klar. Natürlich kennen Sie sie. Rüter hat Ihnen von den beiden erzählt, und Sie haben Kontakt zu ihnen aufgenommen, um herauszufinden, wie weit ihre Ermittlungen gediehen sind. Sehen Sie mich an. Habe ich recht?« »Ja.«

»Ein perfides Spiel, das Sie da gestartet haben. Sie sind sogar bereit, ein paar unbescholtene Polizeibeamte über den Jordan zu schicken. So, und nun rufen Sie zuerst Friedmann und Müller an, danach Henning und Santos. Ich warne Sie, ein falsches Wort, und Sie sind ein toter Mann. Und klingen Sie einfach wie immer.« Albertz holte sein Handy aus der Sakkotasche und wählte Friedmanns Nummer.

»Ich bin's, Karl. Seid heute Abend um neun im Haus von Klein in Mönkeberg, die Zielpersonen werden auch dort sein. Ich habe sie unter einem falschen Vorwand dorthin bestellt. Aber hinterlasst keine Sauerei, ich verlass mich auf euch. Und vor allem keine Spuren ... Nein, ich habe ihnen gesagt, dass sie mit niemandem darüber sprechen dürfen ... Jetzt stell keine blöden Fragen, seid einfach dort und macht eure Arbeit ... Ja, wir sehen uns morgen.«

Albertz drückte die Aus-Taste und legte das Handy auf den Tisch.

»Sie sind noch nicht fertig. Henning und Santos, zack, zack!«

Albertz rief Santos an: »Albertz hier. Können wir uns heute Abend treffen? Ich hätte noch ein paar interessante Informationen für Sie ... In Kleins Haus in Mönkeberg um neun ... Bitte, ich verlasse mich auf Ihre Diskretion ...Ja, Wiederhören.«

Diesmal steckte er das Handy in seine Hemdtasche. »Zufrieden?«, fragte er mit müder Stimme, als würde er resignieren.

»Noch nicht ganz. Angenommen, Sie sterben, wer erbt das alles hier? Ihre Frau?« »Ja, aber ...«

»Mehr wollte ich nicht wissen. Ich werde gleich aufbrechen, allerdings muss ich Sie zuvor noch darüber informieren, dass ich Sie angelogen habe. Ich hatte nicht vor, Sie am Leben zu lassen, Sie sind nämlich eine Gefahr für die Menschheit. Wissen Sie was? Es tut mir nicht im Geringsten leid ...«

»Hey, warten Sie«, stammelte Albertz mit vor Angst geweiteten Augen. »Ich will noch nicht sterben, meine Frau ist schwanger und ...«

»Andere wollten auch nicht sterben, aber Sie haben sie umgebracht oder umbringen lassen oder es zumindest einfach hingenommen. Ich sehe nicht einen Grund, Sie am Leben zu lassen. Keinen einzigen. Es ist vorbei, das war's. Boa noite, Senhor Albertz.«

Albertz wollte schreien, doch er brachte keinen Ton mehr hervor, als die beiden Schüsse kaum hörbar in seine Stirn und seine Brust drangen. Er war auf der Stelle tot. Schmidt schenkte ihm noch einen kurzen Blick, packte seine Tasche und ging nach draußen. Im Wohnzimmer fand er Roberta Albertz. Sie sah eine Gerichtsshow im Fernsehen und drehte sich um, als Schmidt den Raum betrat. »Frau Albertz«, sagte Schmidt und trat näher. »Es tut mir leid, ich habe soeben Ihren Mann erschossen.« »Was?«, kam es ungläubig über ihre Lippen, und die Augen waren unnatürlich geweitet. »Sind Sie wahnsinnig? Das glaube ich Ihnen nicht!« »Doch, es musste sein ...«

»Warum? Was hat er getan?«, schrie sie und wollte aufspringen, doch Schmidt richtete die Pistole auf sie und bat sie mit freundlicher Stimme, sitzen zu bleiben. »Bleiben Sie ganz ruhig, dann wird Ihnen nichts geschehen. Ihr Mann war ein Schwerverbrecher, er hat unzählige Menschenleben auf dem Gewissen. Ich musste ihn töten, sonst hätte er ungehindert weitergemacht.« »Was hat er getan? Er hat doch nur eine Galerie ...« »Falsch. Ihr Mann hat für den Verfassungsschutz gearbeitet und zahllose Verbrechen begangen, für die er in manch anderem Land zum Tode verurteilt worden wäre. Heute Vormittag noch hat er eine Freundin von mir auf brutalste Weise vergewaltigt und geschlagen. Es war eine seiner Spezialitäten, Schwächeren Schmerzen zuzufügen. Hat er Sie auch geschlagen und vergewaltigt?« Roberta Albertz nickte. »Was für Verbrechen hat er begangen?«, fragte sie kaum hörbar.

»Er hat Kinder, Jugendliche und Frauen ins Land gebracht, damit sie von sogenannten Geschäftspartnern und anderen, die das nötige Kleingeld hatten, missbraucht werden konnten. Ich war am Montag auf einer solchen Auktion, die einer seiner Partner durchgeführt hat. Dieser hat vor meinen Augen eine junge Frau auf grausame Weise umgebracht«, sagte Schmidt ruhig. »Das ist zu viel für mich. Wie soll ich Ihnen das glauben? Mein Mann war doch kein Mörder. Er hat mich geschlagen, aber das hat er schon von Anfang an getan ...« »Er hat Ihnen sicher auch gedroht, Sie zu töten, sollten Sie mit irgendjemandem darüber sprechen oder ihn verlassen. Habe ich recht?« »Ja.«

»Und Sie sind geblieben, weil Sie Angst vor ihm hatten.

Stimmt's?«

»Ja.«

»Nun sind Sie frei, machen Sie sich das bewusst! Rufen Sie die Polizei nicht vor einundzwanzig Uhr an. Sagen Sie den Beamten, dass Ihr Mann sich am Nachmittag mit einem Geschäftspartner getroffen habe, den Sie jedoch nicht zu Gesicht bekommen hätten. Sie sind früh schlafen gegangen. Als Sie gegen einundzwanzig Uhr aufwachten, sind Sie nach unten gegangen, um nach ihm zu sehen, und haben ihn in der Bibliothek gefunden. Haben Sie das verstanden?«

»Ja«, sagte sie ängstlich.

»Gut. Sollten Sie der Polizei von mir erzählen, werde ich nicht zögern, Sie zu töten. Wiederholen Sie, was ich Ihnen gesagt habe.«

»Ich rufe die Polizei um einundzwanzig Uhr an und sage, dass mein Mann tot ist. Er hat sich am Nachmittag mit einem Geschäftspartner getroffen, den ich aber nicht zu Gesicht bekommen habe. Ich bin sehr früh schlafen gegangen, weil ich mich nicht gut fühlte, ich bin nämlich schwanger und muss mich andauernd übergeben ...« »Das mit der Schwangerschaft und dem Unwohlsein ist sehr gut, das werden die Beamten verstehen. Fahren Sie fort.«

»Ich bin nach unten gegangen, um nach ihm zu sehen, und habe ihn in der Bibliothek gefunden. War das richtig so?« »Völlig richtig. Bis dahin wird die Leichenstarre eingesetzt haben, und man wird von Ihnen wissen wollen, wo Sie zum Zeitpunkt des Todes Ihres Mannes waren. Schreiben Sie am besten die Sätze auf und lernen Sie sie auswendig. Dann wird Sie niemand verdächtigen.« »Hoffentlich.«

»Keine Angst. Ihr Mann hatte unzählige Geheimnisse, und die Polizei wird auf viele Schweinereien stoßen. Irgendjemand, den Sie nicht kennen, hat ihn umgebracht. Schwangere Frauen töten ihre Männer gewöhnlich nicht. Bitte, erzählen Sie nichts von der häuslichen Gewalt, Sie haben eine vorbildliche Ehe geführt.« »Ich schreibe es mir auf«, sagte sie, holte einen Block und notierte in Windeseile die von Schmidt vorgegebenen Sätze. Sie reichte ihm den Block, und Schmidt nickte. »Perfekt. Damit stehen Sie nicht unter Verdacht. Außerdem wird man feststellen, dass ein Schalldämpfer benutzt wurde, und woher hätten Sie an einen solchen kommen sollen?«, sagte Schmidt lächelnd. »Sie sprechen übrigens perfekt Deutsch, mein Kompliment. Wie haben Sie das so schnell gelernt?«

»Mein Mann hat von mir verlangt, spätestens nach einem halben Jahr in Deutschland die Sprache zu beherrschen. Ich habe monatelang jeden Tag acht bis zehn Stunden gelernt. Manchmal ging es ihm nicht schnell genug, und dann ... Nun, Sie wissen, wie er war, Sie wissen es wahrscheinlich noch besser als ich. Ich kannte ihn nicht, ich habe ihn nie gekannt.«

»Schon möglich. Denken Sie daran, alles, was Ihr Mann besessen hat, gehört ab sofort Ihnen, wie er mir kurz vor seinem Ableben gesagt hat. Er hat sicher mehrere Millionen Euro auf dem Konto, damit können Sie sorgenfrei leben.«

»Ist das wirklich wahr? War mein Mann wirklich ein Verbrecher?«, fragte sie noch einmal. Die Zweifel standen ihr noch immer deutlich ins Gesicht geschrieben. »Sie haben mein Wort darauf. Als Zeichen meines Vertrauens lasse ich Sie am Leben. Enttäuschen Sie mich nicht, ich hätte Sie genauso gut auch töten können. Doch ich töte keine unschuldigen Menschen, es sei denn, sie lassen mir keine Wahl. Sie wollen doch leben, oder? Vor allem jetzt, da Sie schwanger sind.« »Ich werde Sie nicht verraten, das verspreche ich. Wenn es stimmt, was Sie mir gesagt haben, bin ich sogar froh, dass er tot ist. Auf einmal ergibt vieles einen Sinn: seine Heimlichtuerei, dass er mir nie einen seiner Geschäftspartner namentlich vorgestellt hat ... Er hat mich oft geschlagen, beinahe täglich, manchmal nur wegen Kleinigkeiten. Erst kurz bevor Sie gekommen sind, hat er mich wieder geohrfeigt, weil ich etwas gesagt habe, was ich besser für mich behalten hätte. Er verlangte bedingungslosen Gehorsam. Ich solle immer daran denken, dass er mich aus dem dreckigen Manaus ins saubere Deutschland geholt hat. Ich sollte ihm jeden Tag dankbar sein für das, was er für mich getan hat.« »Wie haben Sie ihn kennengelernt?« »Ich habe in einer Bar in Manaus gearbeitet ... Kennen Sie Manaus?«

»Ich war schon dort, ja.«

»Er kam an mehreren Tagen hintereinander, dann lud er mich zum Essen ein und fragte mich, ob ich nicht Lust habe, in Deutschland zu leben ...« Sie schloss für einen Moment die Augen. »Deutschland, ich habe immer von Deutschland und den USA geträumt. Eines Tages wollte ich weg aus Manaus, auch wenn ich meine große Familie verlassen musste. Aber ich war jung ...« »Das sind Sie immer noch. Sie können Ihre Familie jetzt so oft sehen, wie Sie möchten, Geld genug haben Sie.« »Ja, das stimmt wohl. Er war kein guter Mensch, er hat mich zu Sachen gezwungen, die ich nie tun wollte. Er war brutal. Nicht nur körperlich, auch mit Worten.« »Ich weiß. Ich wünsche Ihnen alles Gute. Ach ja, tun Sie mir und sich einen Gefallen, gehen Sie noch nicht in die Bibliothek, es ist kein schöner Anblick. Ich werde gleich verschwinden, doch vorher möchte ich noch einen Blick auf den Überwachungsmonitor werfen. Würden Sie mir zeigen, wo er sich befindet?«

»Ja. Haben Sie noch mehr Menschen umgebracht?« »Ja. Mehr brauchen Sie nicht zu wissen. Frau Albertz, machen Sie sich keine Gedanken darüber, fangen Sie an zu leben, Sie sind noch so jung.«

Roberta Albertz führte Schmidt zu einem kleinen Raum, in dem sich zwei große Plasmamonitore befanden, die mit den Kameras am Haus und um das Grundstück verbunden waren und jeden Zentimeter bis zur anderen Straßenseite zeigten. Es war nichts Ungewöhnliches zu erkennen, die Straße lag wie ausgestorben. »Wird alles aufgezeichnet, was wir auf den Monitoren sehen?« »Ja.«

»Dann geben Sie mir bitte die DVDs und legen Sie keine neuen ein, die Polizei soll denken, der Täter hat sie mitgenommen, was im Prinzip ja auch stimmt«, sagte Schmidt lächelnd.

Roberta Albertz entnahm aus neun kleinen Aufnahmegeräten die DVDs und reichte sie Schmidt. »Danke. Machen Sie's gut, Sie haben nichts zu befürchten, wenn Sie sich an meine Anweisungen halten. Bitte, rufen Sie die Polizei nicht vor einundzwanzig Uhr an -lieber noch eine halbe Stunde später. Ja, es wäre besser, wenn Sie erst so gegen halb zehn anrufen würden.« »Und warum?«

»Das hat einen bestimmten Grund, der Sie nicht zu interessieren braucht. Ich verlasse mich auf Sie.« Er ging nach draußen, trat durch das Tor, blickte unauffällig nach links und nach rechts, kein Mensch und kein Auto weit und breit. Er ging gemächlichen Schrittes die Straße entlang, ein dunkelroter BMW bog um die Kurve. Er erkannte nach kurzem Hinsehen Henning und Santos und fragte sich, was sie hier machten. Egal, dachte er, ganz egal. Nur noch eine Sache, danach würde er sich zur Ruhe setzen. Er hatte genug von diesem rastlosen Leben, ein Leben, das mit so viel Tod verbunden war. Er wollte nur noch Ruhe, Ruhe, Ruhe.

 

Eisige Naehe
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